Essays on Vienna1900

next level

Von Seattle nach Wien
Wie Amerika Europa die Kaffeekultur bringt

von Roberto Simanowski

Seattle und Wien waren bis weit ins 20. Jahrhundert zwei Städte, die nicht viel gemein hatten. Wien lag in der Mitte Europa und blickte auf eine Geschichte zurück, die es immer wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit hatte stehen lassen und um 1900 zum Brennpunkt der europäischen Kunst und Literatur, aber auch Philosophie und Psychologie werden ließen. Seattle war die Frontstadt im Nordwesten, hinter der gleich der Pazifik beginnt. Es war so weit weg, dass nicht mal die Namen aus Europa bis hierher reichten, sondern die Stadt nach einem Indianer aus der Gegend benannt wurde. Dieser Mangel an Geschichte gab Seattle freilich auch die Freiheit, des anderen Anfangs. So besaß Seattle erst 1861 eine Universität - nur 10 Jahre nach Ankunft der ersten Siedler, wenn auch Jahrhunderte nach Wien -, und deren erster graduierter Student war gleich eine Frau. 110 Jahre später eröffnete das erste Starbucks-Café in Seattle. Damit begann, noch vor Microsoft, die Umkehrung des Pioniergeistes: Nun eroberte der Westen den Osten.

Starbucks ist die Erfolgsgeschichte einer Kultivierung des ganzen Landes. Was 1971 in Seattle begann, und 1987 noch nicht über ganze 17 Filialen hinausgekommen war, das hatte sich 1992 auf 165 ausgeweitet, fasste 1994 in New York Fuß und erreichte zum Ende des Jahrhunderts die stattliche Zahl 3 300. Starbucks ist eine Kulturrevolution, getarnt als Expansion einer Company. Es ist der landesweite Kampf des Espressos gegen amerikanischen bottomless Kaffee, der, wie Wiener sagen würden, so dünn ist, dass man eigentlich nur das Abwaschen der Tasse bezahlt, in die man deswegen auch immer wieder nachgeschenkt bekommt, nachdem sie einmal benutzt wurde. Gegen diesen Kaffee gibt es inzwischen Starbucks selbst in kleineren Orten in Kansas oder Idaho. Und nicht nur das. 1999 eröffnete Starbucks Filialen in China, Kuwait, Korea, Libanon.

Die Veränderung des Kaffeegenusses in den Vereinigten Staaten durch Starbucks war so erfolgreich, dass Amerikaner inzwischen schon die Richtung der Einflüsse vergessen haben. 2001 erklärte jemand in der Studentenzeitung der UW in Seattle, es könne nicht die ganze Welt Jeans tragen und Latte trinken. Das sollte - es war nach dem 11. September - die Landsleute zur Bescheidenheit mahnen und als Statement dienen gegen die Amerikanisierung des Rests der Welt. Das war politisch korrekt und zugleich das genaue Gegenteil, denn es unterstellte Latte als Markenzeichen der Vereinigten Staaten. Nun muss freilich nicht jeder wissen, dass Howard Schultz, Starbuck Direktor des Einzelhandelsverkaufs, 1983 in den Espresso-Bars Milanos auf seine zündende Geschäftsidee kam. Aber dass es latte oder café au lait oder café con leche und wie die europäischen Bezeichnungen alle heißen mögen, vor seiner Einführung in den Vereinigten Staaten gegeben hat, sollte schon jedem bewusst sein. Das einzige, was hier wirklich original amerikanisch ist, sind die riesigen Pappbecher, in denen der Latte serviert wird. Und das ist denn auch der politisch korrekte Teil jener Warnung: Es muss nicht die ganze Welt Latte bei Starbucks trinken. Schon gar nicht die Wiener. Womit wir wieder beim Thema sind.

Als "Die Erfolgsstory Starbucks" - von Starbucksgründer Howard Schultz selbst erzählt - 2000 im Wiener Signum Verlag erschien, dachte sicher kaum jemand der Leser daran, dass sich darin eine besondere Verbundenheit des Latte for to go-Magnaten für die Stadt der Kaffeehauskultur äußerte. Jedenfalls werden nur wenige an Wien gedacht haben, wenn sie an Starbucks dachten. Diese wenigen aber wussten, was ein prosperierendes Unternehmen ausmacht: Es will nach dem ökonomischen Erfolg auch Geschichte schreiben. Im vorliegenden Falle Kulturgeschichte, genauer: Kaffekultur-Geschichte. Und der Ansatz für diese Ziel ist Wien, die Stadt der Kaffeekultur.

Inzwischen ist die Nachricht allseits bekannt: Starbucks ist nach Wien gegangen. Da wo früher das Kaffee Fenstergucker war und später das Büro der Air France, Ecke Kärnterstraße / Mahlerstraße, da zog Ende 2001 Starbucks ein. Eine Superlage - die dafür sorgte, dass in den ersten zwei Monaten 100 000 Besucher kamen. Man kann nur hoffen, dass sie trotzdem keinen Erfolg bringt, denn ihr Erfolg wäre das Scheitern der europäischen Kultur. Starbucks in Wien - wo es über 3000 Kaffeehäuser gibt und jeder im Jahr durchschnittlich 1000 Tassen Kaffee trinkt - heisst nicht Eulen nach Athen tragen, sondern Spatzen, die man als Eulen ausgibt.

Nun, die Metapher stimmt nicht ganz angesichts der Riesenbecher, in denen Starbucks den Kaffee serviert. 20 ounces Latte gegen einen Verlängerten Schwarzen. Der Kaffeegenuß wird der berüchtigten amerikanischen Portionierung angeglichen. Selbst das Verhältnis des Kaffees zu Raum und Zeit wird recodiert. Starbucks hat dem bottomless Kaffee zwar Qualität entgegengesetzt, aber es hat ihn nicht von der Straße geholt. Jetzt kann man eben auch mit gutem Kaffee zur Arbeit hetzen. In Wien war die Wahl bisher folgende: dünner Cappuchino am Automaten im Plastikbecher oder man setzt sich für einen guten Melange ins Cafè. Der schlechte auf der Straße, in Eile, der gute in einem ausgestalteten Innenraum, in Ruhe. Starbucks demontiert diese Dreieinigkeit der Qualität von Kaffee, Raum und Zeit. Guter Kaffee for to go. Das ist wie Foie Gras als Streetfood. Ein weiterer Meilenstein in der Amerikanisierung des europäischen Lebensstils? Nach McDonald's, Hollywood und Internet nun auch die Kaffeekultur?

Dass Starbucks eine Firma des Fair-Trade ist, mit ausgezeichneten Arbeitsbedingungen für Behinderte und mit enormen Spenden für die AIDS-Forschung ist noch kein Argument. Auch eine gute Kette ist eine Kette. Und wenn sie Kaffee in Pappbecher gießt, ist sie auch keine richtig gute. Damit hat Economic Political Counselor Lee Brudvig freilich keine Probleme, wenn er sich am 7. Dezember 2001 anläßlich der Eröffnung des ersten Starbucks in Wien an seinen Besuch im Ur-Starbucks in Seattle Pike Place Market erinnert, den seine 14-jährige Tochter "irrsinnig cool" fand: "So sassen wir also bei Starbucks und genossen den Blick auf den Hafen von Seattle - ich mit einem "Frappuchino" Eiskaffee und meine Tochter mit einem der berühmten Starbucks Muffins - als sie plötzlich zu mir sagte: "Daddy, das hier ist ganz anders als die Kaffeehäuser in Wien, das ist so richtig amerikanisch." - Ich denke, dies ist eine sehr zutreffende Einschätzung." Und er wurde nicht mal rot dabei.

Ein Aspekt dieser Amerikanisierung ist auch die Umdeutung des Kaffeehauses selbst dann, wenn man nicht for to go bestellt. Die Wiener beschreiben das Kaffeehaus gern als Ort, an dem man gemeinsam einsam ist. Es gibt eine besondere Art, über den Zeitungsrand hinweg seine Umgebung zu lesen, an der man angeblich nicht teilnimmt. Und es gibt eine besondere Art der diskreten Aufmerksamkeit, mit der die Kellner solcher Orte das Geschehen überblicken. Bei Starbucks gibt es nur Angestellte, die vorn an der Theke den Kaffee ausgeben, und manchmal, so gehen die Klagen, sind sie schon von der Espressomaschine schlichtweg überfordert. Und bei Starbucks liest man eher seine mitgebrachten Schulbücher und Seminarunterlagen und tippt das fällige Essay in den Laptop oder erledigt ein paar Geschäftstelefonate. Da ist soviel zu tun, so viele Dead Lines, so viele Pläne, soviel Zukunft ringsum.

Müßiggang war nie der American Way of Life, erklärt Phillipe Lopates in seinem Essay "A Passion for Waiting" über das Rumsitzen in Kaffeehäusern: Wir müssen immer etwas tun; auch wenn der Osten von der Weisheit des Nichtstuns spricht, ich habe zuviel Arbeitsethik in mir, um diese Disziplin aufzubringen. Lopates wusste, als er sich solcherart gegen Kaffeehäuser aussprach, noch nicht, dass es Anfang des 21. Jahrunderts in jeder größeren amerikanischen Stadt ein Dutzend Starbucks-Cafés geben würde. Hätte er es gewusst, er wäre beruhigt gewesen, denn Starbucks ist alles andere als ein Ort des Nichtstuns! Es gibt hier neben dem Kaffeebecher drei prominente Gegenstände: Schulbücher, Laptops, Handys. Niemand tut hier nichts! Starbucks ist faktisch alles, was nicht Kaffeehaus ist: Büro, Seminarraum und, Dank sei dem Rauchverbot, selbst Kindergarten. Während die Zeitform des Wiener Kaffeehauses eher die Vergangenheit ist (einschließlich der Monarchie) und die Gestik die der Melancholie, ist Starbucks - noch dann, wenn man Platz nimmt - voller Aufbruch.

Es wäre gewiss übertrieben zu sagen, ein Jahrhundert nach der Blüte Wiens erlebt es die Besiegelung seiner kulturellen Marginalisierung in der Eröffnung eines Starbucks-Cafés ausgerechnet in der Kärtnerstraße. Und doch drängt sich ein so großer Satz auf. Denn hier, in der Kärtnerstraße findet eine Kulturrevolution statt, die dem Österreicher ein bisschen Wien nimmt und dafür ein bisschen Seattle, genauer: Amerika gibt. Es geht um den Austausch von Lebenstilen. Die Zukunft scheint absurd, aber greifbar: Junge energische Menschen eilen, auf dem Weg zum nächsten Meeting, durch die Wiener Straßen, in der einen Hand das Handy, in der anderen Decaf Nonfat Latte im Pappbecher, auf dem natürlich steht: Vorsicht, Inhalt könnte heiß sein. Wohin ist es nur mit der Welt gekommen!, möchte man da von seinem Fensterplatz ausrufen, und dem Kellner, der aussieht, als habe er schon Peter Altenberg und Alfred Polgar bedient, müd ein Zeichen geben für einen zweiten Kurzen, als läge die Rettung, oder wenigstens der Trost, im Kaffee.

Seattle, März 2002
 



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