Im
Nachzug von so einflussreichen Studien wie Allan Janiks
und Stephen Toulmins
Wittgenstein's Vienna von
1973 und Carl Schorskes
Fin-de-si`ecle Vienna:
Politics and Culture von 1979 haben Wissenschaftler
aus verschiedenen Fachbereichen behauptet, dass die
Hauptstadt der Habsburger Monarchie in den Jahren
zwischen 1880 bis 1918 einen einzigartigen historischen
und kulturellen Nexus dargestellt hat. Die Tatsache, dass
sich so zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten seit 1960
mit der Wiener Jahrhundertwende beschäftigen, ist
auch ein Symptom für ihre Relevanz für unsere
Jahrhundertwende vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten
Jahrhundert. Viele der grundlegenden intellektuellen und
künstlerischen Impulse, die das Denken und das
kulturelle Umfeld der modernen westlichen Welt
geprägt haben, sind der Wiener Jahrhundertwende
entsprungen. In der Kunst und der Architektur wurzeln
mehrere ganz zentrale Entwicklungen, die die Moderne
eingeschlagen hat und die die Landschaft der westlichen
Kultur einschneidend verändert haben, im Wien der
Jahrhundertwende. Die Bauten von Adolf Loos und Otto
Wagner beispielsweise, aber auch die Arbeiten Maks
Fabianis, Josef Hoffmanns, Friedrich Ohmanns, Joseph
Maria Olbrichs und Josef Pleczniks kulminierten nur
wenige Jahrzehnte später im Bauhaus, dessen Ziel es
war, die Architektur von dem Diktat des Stils zu
befreien. In der Malerei waren es die Werke Gustav
Klimts, Egon Schieles und Oskar Kokoschkas, die im Rahmen
der Wiener Sezession und ihrer offenen Darstellung
erotischer Themen eine radikale Kritik an der
künstlerischen Tradition vorantrieben. Diese
obsessive Beschäftigung mit der Macht und Dynamik
von Sexualität ist natürlich auch der
Mittelpunkt der Arbeiten Sigmund Freuds, dessen
psychoanalytische Theorie eine radikale Abwendung von
traditionellen Vorstellungen über die Natur und die
Konstitution der menschlichen Psyche darstellen. Ein
weiterer Schub von revolutionären
Anstößen erfolgte im musikalischen Bereich mit
der Erfindung der Zwölfton-Kompositionstechnik, die
von Arnold Schönberg und seinen Schülern Alban
Berg und Anton von Webern entwickelt wurde. In der
Philosophie hat die Wiener Jahrhundertwende ebenfalls
mehrere Schulen hervorgebracht, unter anderem den
antimetaphischen Empirico-Kritizismus Ernst Machs, die
logischen Untersuchungen Ludwig Wittgensteins, den
logischen Positivismus Rudolf Carnaps, die Philosophie
Franz Brentanos und die österreichische
ökonomische Schule von Menger, Wieser, und
Boehm-Bawerk. In der Literatur waren es schließlich
Autoren wie Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Robert
Musil und Arthur Schnitzler, die den literarischen Stil
der Moderne mitprägten.
Diese ungewöhnliche
Produktivität ist aber nur eine kennzeichnende
Dimension der Wiener Jahrhundertwende. Ein anderes
Merkmal ist die multi-kulturelle Zusammensetzung der
Stadt Wien und des weiten Habsburger Reiches, dessen
Hauptstadt Wien war. Als die erste Metropole des Reiches,
dessen Regierungssitz und Wirtschaftszentrum, war Wien
wie ein Magnet, das verschiedene Völker aus ganz
Mitteleuropa anzog mit dem Resultat, dass Wien um 1870
bereits eines der ersten wirklich muti-kulturellen
Städte war. Unter seinen Einwohnern waren Deutsche,
Ungarn, Tschechen, Slovenen, Serben, Kroaten, Bosnier und
viele mehr. Diese Volksgruppen und nationalen
Identitäten sind nur ein kleiner Querschnitt von den
vielen verschiedenen Gruppen, die im damaligen Wien und
in Habsburger Monarchie lebten, die an der Schnittstelle
zwischen West- und Osteuropa lag. Diese
Vielfältigkeit hat allerdings nicht nur eine
unglaubliche kulturelle und intellektuelle
Produktivität stimuliert, sondern auch ungeheure
soziale und politische Spannungen erzeugt, die sich am
deutlichsten in dem offenen Antisemitismus gezeigt hat,
der die sozio-politische Landschaft des damaligen Wiens
bestimmt hat. Von daher ist die Wiener Jahrhundertwende
von dem offensichtlichen Paradox bestimmt, dass sie nicht
nur der Geburtsort von Psychoanalyse, Zwölfton-Musik
und moderner Architektur darstellte, sondern gleichzeitig
auch die Wiege des politischen Antisemitismus. Adolf
Hitler hat das Vokabular, die Rhetorik und die Virulenz
seines Antisemitismus während der Jahre entwickelt,
die er in Wien verbracht hat, dessen Bürgermeister
mit offen antisemitischen Wahlsprüchen zum Amt kam.
Es ist oft behauptet
worden, dass die kulturelle Blühte Wien sich dann in
ihrer ganzen Pracht entfaltete, als die politische Macht
der Monarchie am sinken und die innere Stabilität
durch Konflikte zwischen den einzelnen Volksgruppen am
gefährdesten war. Diese Konflikte kulminierten in
der Erschießung des österreichischen
Erzherzogs Ferdinand und seiner Frau durch serbische
Nationalisten. Dieser Vorfall, wie allgemein bekannt ist,
hat Anlass zum Ausbruch des ersten Weltkrieg gegeben, der
letztendlich das Ende des Habsburger Monarchie bringen
sollte. Die Wiener Jahrhundertwende war von daher eine
protopypische Stätte der Moderne nicht nur wegen der
künstlerischen, kulturellen und intellektuellen
Bewegungen, die aus ihr hervorgingen, sondern auch weil
aus ihr die typischen gesellschaftlichen und politischen
Probleme entsprungen sind, die den modernen
Vielvölkerstaat definieren. Von daher eignet sich
Wien um die Jahrhundertwende zu einer Fallstudie, auf der
Basis derer man Diskussionen anleiern kann über die
intellektuellen und sozio-politischen Wurzeln der
heutigen Welt.
Wien um die
Jahrhundertwende stellt ein aussergewöhnliches
Beispiel von disziplinäre übergreifender
Zusammenarbeit dar, weil die kulturelle Elite eine Art
intellektuelle Gemeinschaft bildete inmitten der
Metropole. Wollte man ein Diagramm herstellen, das alle
persönlichen Kontakte der Hauptfiguren des
intellektuellen Lebens im damaligen Wien untereinander
aufzeichnen würde, käme diese enge Verwobenheit
zum Vorschein. Beispielsweise ist Gustav Mahler von Freud
psychoanalytisch behandelt worden; Hugo von Hofmannsthal
sass in den Vorlesungen Ernst Machs zur Philosophie des
Empirico-Kritizismus; Arnold Schönberg studierte bei
dem weniger bekannten Sezessionsmaler Richard Gerstl (der
dann eine Affaire hatte mit Schönbergs Frau); einer
der profiliertesten Schriftsteller, der Journalist Karl
Kraus, war Lehrer des jungen Philosophen Otto Weininger;
und Gustav Klimt malte eine Porträt von
Wittgensteins Schwester zum Anlass ihrer Verheiratung.
Das Forum für diese Art von intensiver Interaktion
war die Institution des Wiener Kaffeeehauses, wo man sich
traf, um Meinungen auszutauschen, Ideen zu debattieren
und Gedankenpläne zu schmieden. In dem Sinne, in dem
es diese Art von Interaktion ermöglichte, war das
Wiener Kaffeehaus eine Art vor-elektronische Form des
Internet.
Diese Web Seite zur
Wiener Jahrhundertwende stellt nicht nur einen Versuch
dar, diese über Einzeldisziplinen hinausgehende
Interaktion zu studieren, sondern sie auf einer
strukturellen Ebene nachzustellen als ein zentrales
Kriterium, das interdisziplinäre Forschung in den
Geisteswissenschaften bestimmt.